Samstag, 1. Juni 2013

Abgestorben - aber nicht ab


Direkt vor den Fenstern unseres Refektoriums steht ein Baum mit einem abgestorbenen Ast. Schon in den Stürmen des vorletzten Herbstes ist er abgebrochen. Seitdem schaue ich bei jeder Mahlzeit darauf, wenn ich nicht gerade mit dem Rücken zum Fenster sitze. Er ist geradezu ein Blickfang. Inzwischen sind die Bäume üppig grün - aber ich schaue immer auf diesen einen Ast.
Anfangs habe ich gehofft, er würde irgendwann von alleine runterfallen. Das hat sich als irrig herausgestellt. Dann habe ich unsere Haustechnik gebeten, ihn abzusägen, aber es ist einfach zu hoch, sie kommen nicht dran. Er steht auf der Liste, wenn mal wieder größere Baumarbeiten zu machen sind, für die "schweres Gerät" ausgeliehen wird.
Zuerst habe ich mich über den Ast amüsiert: eine Kuriosität, dass der nicht runterfiel. Dann habe ich mich geärgert: jetzt müsste aber allmählich mal wieder die Harmonie hergestellt werden! Inzwischen merke ich, dass ich in eine dritte Phase komme: ich fange an, mich mit dem Ast anzufreunden. 
So geht es mir mit anderen Dingen ja auch. Macken, Probleme oder Verletzungen, die ich mit mir rumschleppe. Manches ist nur kurios, vielleicht ein bisschen spleenig, eher interessant als problematisch. Manches muss ich aber auch bearbeiten, um die Harmonie in mir und mit meiner Umgebung wieder herstellen zu können. Und schließlich gibt es Dinge in mir, die ich irgendwann akzeptieren muss. Dann weiß ich: Nein, dies ist nicht nur ein witziger Spleen, sondern eine ernsthafte Verletzung. Ich habe mich bemüht, aber ich kann sie nicht einfach aus meinem Leben entfernen. Da ist etwas abgestorben - aber deshalb ist es noch nicht ab. Es bleibt ein Teil von mir und ich tue gut daran, mich damit anzufreunden, anstatt mich immer wieder neu daran zu reiben und zu verletzen.

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