Mittwoch, 26. Oktober 2011

Dankt dem Vater mit Freude

Heute abend saß in der Vesper Sr. Maria neben mir. Eigentlich wäre das nichts Besonderes, das ist ihr Platz, aber sie kommt nicht mehr so oft in die Kapelle. Sie ist noch gar nicht so alt, aber leider ziemlich verwirrt.
Heute jedoch wollte sie mit uns beten. Sie nahm sich ihr Brevier und schlug es auf - aber natürlich wusste sie nicht, wo. Ich wollte es ihr zeigen - aber sie winkte ab: "Ich kann das eh nicht mehr so richtig lesen". Sie behielt das Buch also in den Händen, ohne hineinzusehen und hörte unserem Beten zu.
Die Psalmen, die wir abends beten, waren ursprünglich Lieder. Sie eignen sich gut, im Wechsel gesungen oder gesprochen zu werden: die Schwestern auf der linken Seite lesen den ersten Vers, die auf der rechten Seite den zweiten, usw.
Nach zwei Psalmen folgt ein Text aus dem neuen Testament, das sogenannte Canticum - ebenfalls in Versform gebracht, na ja, eher gezwängt. Das heutige Canticum war vom Versmaß etwas sperrig, aber vom Inhalt wunderschön. Ich liebe diesen Text. Und plötzlich hörte ich, wie Sr. Maria neben mir mitsprach, sie konnte den ganzen schwierigen Text auswendig - wer weiß, wie oft in ihrem Leben sie ihn schon gebetet hat:

"Dankt dem Vater mit Freude!
Er hat euch fähig gemacht,
Anteil zu haben am Los der Heiligen,
die im Licht sind.
Er hat uns der Macht der Finsternis entrissen
und aufgenommen in das Reich
seines geliebten Sohnes.
Durch ihn haben wir die Erlösung,
die Vergebung der Sünden.
Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes,
der Erstgeborene der ganzen Schöpfung.
Denn in ihm wurde alles erschaffen,
im Himmel und auf Erden,
das Sichtbare und das Unsichtbare,
Throne und Herrschaften, Mächte und Gewalten;
alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen.
Er ist vor aller Schöpfung, in ihm hat alles Bestand."

Und mir ging auf: Wenn der Verstand sich umnachtet, dann befähigt uns Gott dennoch, Anteil am Licht zu haben. Und wenn alles ins Wanken gerät, wenn nichts mehr stimmt, dann dürfen wir doch sicher sein: in Ihm hat alles Bestand.
Danke, Sr. Maria, für diese Übersetzung des Kolosserbriefes!

1 Kommentar:

  1. Wie schön, daß sich immer wieder solche Fenster öffnen - für Schwester Maria und für Ihre Gemeinschaft.

    AntwortenLöschen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.